Sieben Monate auf einer treibenden Eisscholle

Drift-Expedition NP-35 liefert erstmals Daten über die winterliche Atmosphäre über der zentralen Arktis

Zum ersten Mal hat ein Deutscher an einer russischen Drift-Expedition teilgenommen und die Atmosphäre über der zentralen Arktis während der Polarnacht erforscht. Jürgen Graeser von der Forschungsstelle Potsdam des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung in der Helmholtz-Gemeinschaft ist jetzt nach Deutschland zurückgekehrt. Als Mitglied der 21-köpfigen russischen Expedition NP-35 (35. Nordpol-Drift-Expedition) hat er sieben Monate auf einer treibenden Eisscholle in der Arktis verbracht. Der 49-jährige Wissenschaftstechniker hat Beobachtungsdaten aus einer Region gewonnen, die normalerweise während des arktischen Winters unzugänglich und damit weitgehend unerforscht ist. Aufstiege mit einem Fesselballon bis in 400 Meter Höhe, sowie ballongetragene Sondenaufstiege bis in 30 Kilometer Höhe lieferten Messwerte, die dazu beitragen werden, gegenwärtige Klimamodelle für die Arktis zu verbessern.

Die Arktis ist trotz ihrer Bedeutung für das Klimasystem der Erde immer noch ein weißer Fleck auf der Datenlandkarte. Kontinuierliche Messungen in der Atmosphäre über dem Arktischen Ozean fehlten bislang. „Ohne zeitlich und räumlich hoch aufgelöste Datenreihen im arktischen Winter können wir keine zuverlässigen Klimaszenarien entwickeln. Die Messwerte, die Jürgen Graeser im Rahmen der NP-35 Expedition gewonnen hat, sind einzigartig und werden die noch existierenden Unsicherheiten in den Klimamodellen deutlich verringern“, sagte Prof. Dr. Klaus Dethloff, Projektleiter am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung.

Russisch-Deutsche Kooperation

Seit 1937/38 hat das russische Institut für Arktis- und Antarktisforschung (AARI) in St. Petersburg bereits 34 rein russische Nordpol-Driftstationen durchgeführt. Im Rahmen des Internationalen Polarjahres 2007/2008 durfte nun erstmals ein Ausländer an einer Driftexpedition (NP-35) teilnehmen. Dank ihrer engen Kooperation mit dem AARI konnten die Wissenschaftler der Forschungsstelle Potsdam des Alfred-Wegener-Instituts ein Projekt zur Erforschung der polaren Atmosphäre in der schwer zugänglichen Region des Arktischen Ozeans realisieren.

Die Expedition NP-35

Von September 2007 bis April 2008 war der Wissenschaftstechniker Jürgen Graeser von der Forschungsstelle Potsdam Teil des NP-35 Teams. Sieben Monate hat der 49-Jährige zusammen mit 20 russischen Kollegen auf einer drei Mal fünf Kilometer großen Eisscholle gelebt und gearbeitet. Während sich Graeser auf Messungen der arktischen Atmosphäre konzentrierte, haben die russischen Wissenschaftler Untersuchungen der ozeanischen Deckschicht, der Meereiseigenschaften, der Schneebedeckung und der Energiebilanz über der Eisoberfläche durchgeführt. Außerdem haben sie atmosphärische Daten von Temperatur, Feuchte, Wind und Luftdruck am Boden und bei Radiosondenaufstiegen erfasst. Im Laufe des Winters ist die Scholle 850 Kilometer in nordwestlicher Richtung über den Arktischen Ozean gedriftet. Anfang April ist Jürgen Graeser von Polar 5, dem Forschungsflugzeug des Alfred-Wegener-Instituts, von der Eisscholle abgeholt worden. Der komplizierte An- und Abflug auf die NP-35 wurde von Brian Burchartz, Chefpilot der Enterprise Airlines Oshawa aus Kanada durchgeführt. „Die Zeit auf der Eisscholle habe ich sowohl persönlich als auch beruflich als unglaubliche Bereicherung erlebt“, sagte Jürgen Graeser. Die russischen Kollegen werden ihre Messungen noch bis zur geplanten Evakuierung der Station im September 2008 fortführen.

Die Erforschung der Atmosphäre – Grenzschicht

Während der Drift hat Jürgen Graeser die Atmosphäre über dem Arktischen Ozean untersucht. Um die meteorologische Struktur der arktischen Grenzschicht und deren zeitliche Änderung zu messen, hat er regelmäßig einen heliumgefüllten Fesselballon steigen lassen. Die sechs am Seil befestigten Sonden haben Messwerte für Temperatur, Luftdruck, Feuchte und Wind ermittelt und an Graesers Computer gesendet. In der Schicht zwischen dem Erdboden bis in etwa 400 Meter Höhe finden die für das Klima wichtigen Austauschprozesse von Wärme, Impuls und Feuchte zwischen Erdoberfläche und Atmosphäre statt. Nun wurde erstmals die räumliche und zeitliche Struktur von bodennahen Temperaturinversionen über die gesamte Polarnacht vermessen. Zur Auswertung und Interpretation der Messdaten haben die Wissenschaftler in Potsdam Simulationen mit einem regionalen Klimamodell der Arktis durchgeführt. Vorläufige Vergleiche von Temperaturprofilen, die auf der Eisscholle gemessen wurden, mit solchen aus dem regionalen Klimamodell, unterstreichen die Wichtigkeit der von Jürgen Graeser durchgeführten Messungen. Es finden sich große Abweichungen zwischen Beobachtungs- und Modelldaten im Bereich vom Erdboden bis etwa 400 Meter Höhe. Der Zusammenhang der arktischen Grenzschicht mit der Entwicklung und der Zugbahn von Tiefdruckgebieten ist ein Schwerpunkt der anschließenden Untersuchungen in Potsdam.

Die Erforschung der Atmosphäre – Ozon

Vertikal hochaufgelöste Ozonwerte aus der zentralen Arktis sind rar. Um diese Datenlücke zu schließen, hat Jürgen Graeser regelmäßig einen mit Radio- und Ozonsonde ausgestatteten Forschungsballon steigen lassen. Diese Ballone tragen die Sonden bis in etwa 30 Kilometer Höhe. Der Bereich der Ozonschicht in etwa 20 Kilometer Höhe war im vergangenen Winter in der gesamten Arktis ungewöhnlich kalt und setzte damit den in der Vergangenheit beobachteten Trend zu kälteren Bedingungen in dieser Höhe fort. Die Kälte hat eine erhebliche Zerstörung der arktischen Ozonschicht im vergangenen Winter begünstigt. Die einzigartigen Messungen von NP-35 werden wesentlich dazu beitragen, den vom Menschen verursachten Anteil an der Ozonzerstörung genauer zu bestimmen.

Das Leben auf der Scholle

„Der hohe Arbeitsaufwand des straffen Messprogramms ließ die Zeit auf der Eisscholle extrem schnell vergehen“, sagte Jürgen Graeser bei seiner Rückkehr. Das tägliche Leben war einerseits durch die Messungen, andererseits durch die gemeinsamen Mahlzeiten strukturiert. Ein Koch war für die Verpflegung des Teams zuständig, wobei jeder Überwinterer alle drei Wochen für einen Tag in der Küche mithalf. Dieser Küchendienst fiel zusammen mit dem Stationsdienst zur Kontrolle des Zustandes der Eisscholle und der Anwesenheit von Eisbären in Stationsnähe. Wie sich herausstellte waren dies zwei wichtige Aufgaben, da die Eisscholle im Laufe des Winters mehrfach gerissen ist, sich der entstandene Spalt aber wieder verschloss. Zudem sorgten häufige Eisbärenbesuche für Aufregung bei den Expeditionsteilnehmern. Über ein Satellitentelefon war es Jürgen Graeser möglich, mit den Kollegen in Potsdam Kontakt zu halten und die aktuellen Messdaten zeitnah zu übertragen.

Zukünftige Projekte

Das längerfristige Ziel besteht darin, die großen Unsicherheiten der gegenwärtigen Klimamodelle in polaren Breiten deutlich zu reduzieren. Um Modelle aufzustellen, benutzt man mathematische Beschreibungen für die physikalischen Prozesse, die in der Natur ablaufen. Diese so genannten Parametrisierungen basieren auf Messwerten und können nur dann realistische Klimasimulationen ermöglichen, wenn die Datengrundlage gut ist. Im November 2008 werden die am NP-35 Projekt beteiligten Wissenschaftler die Ergebnisse der Expedition im Rahmen eines internationalen Workshops in Potsdam diskutieren. Insgesamt ist das Projekt NP-35 ein weiterer bedeutender Meilenstein für die Potsdamer Atmosphärenforscher. Die Forschungsergebnisse stellen eine wichtige Grundlage für internationale Schwerpunktprojekte CliC (Climate and Cryosphere) und SPARC (Stratospheric Processes and their Role in Climate Change) des Weltklimaforschungsprogramms (World Climate Research Programme, WCRP, http://wcrp.wmo.int/ ) dar.

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