Jürgen Dollase

Geschmackssache: 10 Merkmale der Neuen Deutschen Schule

Die Köche der Neuen Deutschen Schule (vgl. Geschmackssache vom 2. Juni 2007) befinden sich in einer außergewöhnlich günstigen historischen Situation. Sie arbeiten in einem Land, in dem in vielen Bereichen die handwerklichen Aspekte hoch geschätzt werden und haben vor diesem Hintergrund auch in ihrem Fach exzellente Grundlagen entwickelt. Dazu kommt, dass die kreativen Entwicklungen in der Kochwelt und vor allem die Entwicklungen der spanischen Avantgarde diese Generation zu einem Zeitpunkt getroffen haben, wo sie „fertige“ Köche waren, also auch in der Lage, die neuen Entwicklungen einem schon fortgeschrittenen eigenen Schaffen gegenüberzustellen.

Parallel zur Entwicklung in Spanien hat man bemerkt, dass die alte Bastion Frankreich deutlich an Gewicht verliert, weil alte Vorbilder schwächeln und die kreativen Impulse der Gangaire und Co. kaum die Reizschwelle überschreiten, die international wirklich für Furore sorgen könnte. Nach einer Phase gewisser Irritationen, unkritischer Adaptionen oder noch wenig ausgereifter eigener Versuche gab es in den letzten zwei bis drei Jahren eine wesentliche Veränderung. Man bemerkte, dass auch die eigenen Kreationen Format gewinnen und in der Lage sind, international zu bestehen – sozusagen als eine Art dritter Weg zwischen Frankreich und Spanien (um es einmal sehr verkürzt darzustellen).

Dieser dritte Weg kann sich tatsächlich zu einem goldenen Mittelweg entwickeln, weil sich unsere modernen Meister von Wissler, Bühner und Raue bis zu Elverfeld, Amador oder Hoffmann besser von überkommenen Traditionen lösen können, als die meisten Franzosen und auf der anderen Seite über wesentlich mehr Substanz verfügen, als die meisten Spanier, deren technologische Fortschritte oft nicht von einer entsprechenden Qualität im aromatischen und strukturellen Bereich begleitet sind.

Es scheint nunmehr möglich, die veränderte Sicht der Neuen Deutschen Schule auf die Kochkunst in einer Liste von zehn Merkmalen zusammenzufassen, die von den Grundlagen bis zur konkreten Arbeit die wichtigsten Punkte enthält. Diese Merkmale entwickeln ein Profil, das sich natürlich nicht in jeder Kreation in Reinkultur findet, sondern die verschieden gewichteten Ansätze der Köche kondensiert und in einen Zusammenhang stellt.

So, wie die Neue Deutsche Schule keine wohlfeilen „Tricks“ für Berufsanfänger bereithält, sondern kulinarische Substanz voraussetzt, setzt auch diese Zusammenstellung von Merkmalen im fortgeschrittenen Bereich an. Unverzichtbare Grundsätze des Faches, wie zum Beispiel die Marktfrische der Produkte, oder sich aus dem Text ergebende Folgerungen wie etwa der Verzicht auf kulinarisch unwesentliche Dekorationsstücke und die Leichtigkeit der Zubereitungen werden nicht eigens erwähnt.

1. Die Neue Deutsche Schule hat eine universelle Sicht auf die Kochkunst. Aus dieser Sicht heraus schätzt sie die Qualitäten unterschiedlicher Küchen. Sie steht nicht mehr ausschließlich in der Nachfolge der klassisch-französischen Haut Cuisine, deren Leistungen sie zwischen unverzichtbaren Grundlagen des Faches und modisch-geschmacklichen Ausprägungen differenziert betrachtet.

2. Das ausgeweitete Verständnis von Kochkunst verlangt eine große Offenheit gegenüber möglichen neuen Impulsen und damit auch die Notwendigkeit einer ständigen Recherche, Bewertung und Einordnung. Bei der Umsetzung dieser Einflüsse und Erkenntnisse wird Kreativität und Individualisierung zu einem grundlegenden Merkmal der neuen Küche.

3. Aus dieser neuen Offenheit und Sensibilisierung folgt neben der stärkeren Individualisierung der Küchenstile auch eine veränderte Sicht auf die regionalen und traditionellen Ressourcen der Küche, die zu einer gleichberechtigten und selbstverständlichen Quelle der Inspiration werden.

4. Die Neue Deutsche Schule konzentriert sich nicht mehr nur allein auf die traditionellen Luxusprodukte. Jedes technisch einwandfreie Naturprodukt, aber auch viele hochwertige Artefakte von Gewürzmischungen bis zu speziellen Saucen können Material der neuen Küche werden, wenn sie den Kriterien einer entwickelten Küche entsprechen.

5. Die Köche der Neuen Deutschen Schule nutzen alle Vorbereitungs- und Kochtechniken, die ein spezifisches, unverwechselbares Ergebnis ermöglichen. Die Spannweite reicht von klassischen Techniken bis zu innovativen Entwicklungen und zur Wiederentdeckung traditioneller Verfahren. Aus dem Grundsatz der ständigen Recherche ergeben sich vermehrte Anstrengungen zur weiteren Verbesserung der Kochtechniken mit dem Ziel der Optimierung des Endproduktes.

6. Die neue Küche öffnet sich gegenüber den Aromen der Welt. Sie beendet damit die langjährigen Einschränkungen, die durch einseitige und meist in einem ganz bestimmten historischen Kontext zu sehende Vorgaben speziell der französischen Haut Cuisine entstanden sind.

7. Die neue Küche berücksichtigt in umfassenderer Weise als bisher die physiologischen und psychologischen Grundlagen des Essens. Ihre Kreationen überwinden das traditionelle Bild einer vorwiegend an den Aromen im engeren Sinne ausgerichteten Küche zugunsten einer komplexen Sensorik.

8. Die neue Küche antizipiert die Reaktionen der Esser und sucht Präsentationsformen, mit deren Hilfe die präzise strukturierten Absichten des Kochs und die möglichen Wahrnehmungen des Essers zunehmend synchronisiert werden.

9. In Folge dieser Überlegungen entwickelt sich als grundsätzliches Prinzip die strukturalistische Küche. Bei der strukturalistischen Küche werden alle Elemente einer Kreation unter sensorischen Gesichtspunkten präzise aufeinander bezogen. Vor allem genau durchdachte Proportionen werden zu einem Kernthema der kulinarischen Konstruktion.

10. Im Mittelpunkt eines Essens der Neuen Deutschen Schule steht der degustative Charakter der Kreationen, in dem sich stärker als bisher das Interesse an Vielfalt und Subtilität widerspiegelt. Ihren Ausdruck findet diese Form des Essens aber nicht allein in einer möglichst umfangreichen Folge von Miniaturen, sondern auch in komplexeren Kreationen, deren vielfältige Struktur hohe Ansprüche an Köche wie Esser stellt. Den Höhepunkt der Kochkunst bildet unter diesen Voraussetzungen die unter Beachtung komplexer physiologischer und psychologischer Aspekte subtil erarbeitete und ebenso rezipierte strukturalistische Kreation.

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