sternefresser zu Gast bei Tim Raue

Das Phänomen ist hinlänglich bekannt: Bisweilen sieht man den Wald vor
lauter Bäumen nicht. So oder so ähnlich muss es wohl unseren Freunden
vom Guide Michelin in den vergangenen Jahren stets ergangen sein, wenn
sie bei Tim Raue hineingeschnuppert haben. Zugegeben, Raue hat in seiner
ihm eigenen Art die ein oder andere Schneise geschlagen, die die Tester
gewissermaßen auf den Holzweg geraten ließ. Doch ist es nicht deren
Aufgabe, das Glimmen potenzieller Sterne aufzuzeigen, bevor halb
Frankreich dort zu Gast war?

Abseits jeder Vergangenheitsbewältigung erlebten wir einen gereiften Tim
Raue, der in seiner Arbeit und seinem Umfeld aufgeht, ohne es jedoch zu
vernachlässigen, aktiv und leidenschaftlich an seiner Weiterentwicklung
zu arbeiten. Raues Kochstil orientiert sich konsequent, wie vielleicht
derzeit nur der von Joachim Wissler und Juan Amador, an den Lehren von
Ferran Adria. Das elegante Umschmeicheln eines Produktes mit
Kompositionen, die dem eigentlichen Kern nicht zwingend naheliegen und
die hier heraus entstehenden Kreationen schaffen Geschmackserlebnisse,
die intensiver und erlebnisreicher nicht sein könnten.

Haben gut lachen: Tim Raue und die Sternefresser

Zum Auftakt des Evolutionsmenüs ein herrlich leichter und großartig
aromatischer Einstieg in den Abend mit Apfelgelee & Apfel, Estragon und
Ingwereis zu den King Crab. Die pochenden Aromen, die sich aus den
Temperaturkontrasten von Eis und Kernzutat ergeben, sind hinlänglich
bekannt. Viel spannender ist, was Raue dem so selten aktiv eingesetzten
Apfel in gelierter Form im Zusammenwirken mit dem Ingwereis angedeihen
lässt. Chapeau! Die Reduktion der Frucht – ähnlich der Zugabe des
Pflaumenweingelees beim Atter-Ox – ist echte Kochkunst und arbeitet
diffizile geschmackliche Nuancen heraus.

Die nachfolgende Kaisergranaten (mit Zimtjus glaciert sowie mit Salat
von Orange und Rosenkohl und Koriander) sowie der gedämpfte Rascasse mit
Petersilie und Zitrone steigern stufenweise die Geschmackserlebnisse.
Anders als bei Adria wird der Gaumen nicht durch ständig wechselnde
Highlights in Anspruch genommen, sondern in schrittweisen Akkorden
herausgefordert.

Amouse Bouche: die ‘Kaviar-Stulle’

Unser persönliches Highlight an diesem Abend war das geräucherte
Aalfilet auf grüner Pfefferbrandade, geschmorter Rote Beete und Lauch.
Ein so selten eingesetztes Ingredenzium wie der Aal blüht mit wenigen
aber exakt getimten Zutaten auf und entfacht ein sanft rauchig aber
butterzartes Gaumenspiel.

Viele Küchen setzen auf den Effekt hochwertiger, klassischer Zutaten in
einer klassischen Zubereitung. Bei guter handwerklicher Arbeit meist ein
Heimspiel beim Guide Michelin. Wo aber bleibt hier Können und
Bewusstseinserweiterung? Findige Menschen haben hierfür in den 70er
Jahren LSD auf den Plan gerufen – wir sind sicher, Tim Raue in seiner
heutigen Form hätte dies verhindern können. Eine Tatsache, die sich
einmal mehr beim geschmorten Atter-Ox zeigt. Das Fleisch, das im
Garungsprozess sanft aber nachhaltig die Aromen von Kakao, Datteln und
Trüffeln aufgesogen hat, wird ganz herzlich durch das bereits erwähnte
Pflaumenweingelee „gestört“. Reibung erzeugt Energie möchte man denken.
So auch an dieser Stelle und man ist gewillt den Abend mit all den
bisherigen Erlebnissen einfach einzufrieren.

Erster Preis beim Grand Marnier Wettbewerb: “Delice von Orange und
weißer Schokolade” von Janine Sens

Es war uns nicht vergönnt, ein Ende zu finden (und nachträglich sagen
wir auch hierfür: Danke!). Insbesondere die großartige Dessertvariation
Delice von Orange und weißer Schokolade von Katja Lüdecke und Janine
Sens, die beim aktuellen Grand Marnier-Wettbewerb den ersten Platz
belegte, fesselte uns. Die in der Konsistenz festeren Orangencrumbles
gewinnen bereits im Duell mit dem Champagner-Vanillegelee an Größe – das
weiße Schokoladeneis tut zur Abrundung sein eigenes dazu.

Joachim Wissler hat seines Zeichens drei Sterne, Juan Amador inzwischen
zwei – was also macht Raue anders als seine Kollegen? „No Idea“, bleibt
uns zu entgegnen – wir konnten es nicht herausfinden. Insbesondere der
nur knapp zwei Wochen zurückliegende Vergleich mit Joachim Wissler
brachte unserem Gaumen kaum substanzielle Unterschiede.

Der Service kann diesem hohen Menü ohne Zweifel parieren. Einmal
herausgefordert, wird Ästhetik und Tonality der Küche gekonnt
aufgegriffen und die einzelnen Gänge durch ein Lächeln versüßt. Dies
kann durchaus auch durch die korrespondierende Weine gelingen,
wenngleich wir die dringende Empfehlung aussprechen müssen, niemals zu
versuchen 2 von Raues Kreationen mit nur einem Wein ‘unter einen Hut’ zu
bekommen. Dieses Vorgehen überschattet die ansonsten vorherrschende
Perfektion der Gerichte und schmälert das Genusserlebnis.

Das 8-gängige großartige Evolutionsmenü zeigt, dass Raue im letzten
halben Jahr noch deutlicher den Weg eingeschlagen hat, sein Spektrum zu
fokussieren. Der Platz auf dem Teller wird nunmehr nicht mit Allerlei,
sondern mit der Essenz von Raues Kreativität bedeckt – das tut Teller
und Gast gut und lässt die Fähigkeiten Raues noch deutlicher zum Tragen
kommen.

Eine Fortentwicklung, die sich sowohl bei Ausstattung als auch Branding
fortsetzt: Kreative Ideen und Mut zur Umsetzung – so gehört Tim Raue
unter die Sterneköche Deutschlands. Seine aktive Kommunikation zeigt nur
zu deutlich, dass er ein Koch ist, der mit dem Herzen bei der Sache ist
und wie ein Schwamm jede noch so kleine Idee aufsaugt und nach einer
scharfen Selektion in seinem Wirken aufgehen lässt.

Wir haben in den vergangenen 6 Monaten keinen Koch kennen gelernt, der
eine Auszeichnung mit dem bekannten Stern deutlicher verdient hätte.
Auch wenn Raues Mannschaft ohne eine Portion Französisch gut auskommt,
gilt hier: Hochmut kommt vor dem Fall. Einen inzwischen erfahrenen
Gastronomen mit gewagten aber substanziellen Konzepten, Teamfähigkeit,
hohen social skills und gleichzeitig nachweisbarem Publikumserfolg
gekonnt zu ignorieren, schafft unter Umständen eines Tages bei den
Lesern eine zweifelhafte Lobby.

Raue´s Schale, Gourmet´s Kern: Leidenschaft, Kreativität und Kochkunst
inmitten unserer Hauptstadt wird im kommenden Jahr stärker belohnt – wir
sind uns dabei sicher. Ihre Stimme zählt!

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2 Antworten auf „sternefresser zu Gast bei Tim Raue“

  1. Wir haben uns das 8-gängige Evolutionsmenü, das auf Nachfrage übrigens auch mit begleitenden Weinen angeboten wird, die ebenso exquisit wie die acht Köstlichkeiten sind, ein paar Tage später zu Neujahr gegönnt – ein Erlebnis! Auch wir haben lange Zeit nicht so gut gegessen und haben uns geschworen, ihm immer, wenn wir wieder in Berlin sind, einen Besuch abzustatten.

  2. Wir haben uns das 8-gängige Evolutionsmenü, das auf Nachfrage übrigens auch mit begleitenden Weinen angeboten wird, die ebenso exquisit wie die acht Köstlichkeiten sind, ein paar Tage später zu Neujahr gegönnt – ein Erlebnis! Auch wir haben lange Zeit nicht so gut gegessen und haben uns geschworen, ihm immer, wenn wir wieder in Berlin sind, einen Besuch abzustatten.

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