Dick oder dünn – das Gehirn entscheidet mit

Regelkreis im Gehirn kontrolliert den Fettstoffwechsel direkt und
unabhängig von der Nahrungsaufnahme

Das Gehirn kontrolliert die Fettspeicherung nicht
nur über die Wahrnehmung von Hunger und Sättigung, sondern auch direkt
und unabhängig von der Nahrungsaufnahme. Dies ist das Ergebnis einer
neuen internationalen Studie, an der Wissenschaftler des Deutschen
Instituts für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (DIfE) federführend
beteiligt sind. Wie die Forscher erstmals auf molekularer Ebene an
Nagern nachwiesen, reguliert das Melanocortin-System, ein
neuroendokriner Regelkreis im Gehirn, wie viel Zucker in Fett
umgewandelt, in Fettzellen gespeichert oder im Muskel verbrannt wird.
Das System tut dies direkt, schnell und unbeeinflusst von der
Nahrungsaufnahme. Nach Aussage von Matthias Tschöp, Leiter der Studie,
könnte eine genaue Kenntnis der molekularen Zusammenhänge neue
Pharmakotherapien zur Behandlung von krankhaftem Übergewicht
ermöglichen. Die Wissenschaftler veröffentlichten ihre Ergebnisse nun
in der aktuellen Online-Ausgabe der Fachzeitschrift Journal of Clinical
Investigation (Nogueiras and Wiedmer et al.,2007).

In Staaten mit „westlichem Lebensstil nimmt die Zahl Übergewichtiger
Menschen rapide zu. Hierdurch steigt auch die Zahl der Menschen, die an
Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder bestimmten Krebsformen
leiden. Bislang gibt es jedoch noch keine sicheren Medikamente, die
Übergewicht dauerhaft verhindern und so den damit verbundenen
Erkrankungen wirksam vorbeugen. „Das Melanocortin-System ist ein
naheliegender Angriffspunkt für Pharmakotherapien, erklärt Hans-Georg
Joost, wissenschaftlicher Direktor des DIfE. Seit langem wisse man, dass
das Gehirn als übergeordnetes Organ das Energiegleichgewicht des Körpers
kontrolliert, also die Balance zwischen Kalorienaufnahme und
Kalorienverbrauch bestimmt. Bislang sei aber nicht bekannt gewesen, dass
es auch darüber entscheidet, ob Fett oder Zucker zur Energiegewinnung
genutzt wird.

Wie die vorliegende Studie nun erstmals auf molekularer Ebene zeigt,
reguliert das Melanocortin-System das Gleichgewicht zwischen der
zellulären Zuckeraufnahme, der Fettsynthese, der Fettspeicherung und
dem Fettabbau in der Leber, im Muskel und im Fettgewebe. Eine erhöhte
Aktivität des Systems stimulierte bei Versuchstieren die
Fettverbrennung. Dagegen fährte eine auf pharmakologischem oder
genetischem Weg erzeugte verringerte Aktivität zu einer verstärkten
Fettspeicherung. Dabei war die Zunahme der Fettmasse unabhängig von der
Nahrungsaufnahme und ließ sich auf folgende Stoffwechseländerungen
zurückfähren:
1. eine verstärkte Fettsynthese in der Leber,
2. einen verminderten Energieverbrauch in den Muskeln (es wurde
weniger Zucker/Glucose aufgenommen),
3. eine erhähte Insulinsensitivität des weißen Fettgewebes,
4. eine erhähte Fett- und Zuckeraufnahme ins weiße Fettgewebe,
wodurch die Fettsynthese in diesem Gewebe stimuliert wurde

Zusätzlich untersuchte Tschöps Team den Energiestoffwechsel von
Menschen, die aufgrund einer genetisch bedingten Störung des
Melanocortin-Systems an massivem Übergewicht leiden. Das Ergebnis dieser
Untersuchung lässt annehmen, dass die Gewichtszunahme der Betroffenen
auf den gleichen oder ähnlichen Mechanismen beruht, die die Forscher
bereits bei den Nagern beobachteten.

„Unsere Resultate erklären damit nicht nur, warum eine verminderte
Melanocortin-System-Aktivität sogar ohne eine erhöhte Nahrungsaufnahme
zu Übergewicht führen kann, sondern sie zeigen auch neue Ansatzpunkte
für die Entwicklung wirksamerer Medikamente zur Kontrolle von
Übergewicht auf. Diese werden dringend benötigt, um dem weltweit
zunehmenden Problem Übergewicht Herr zu werden, so Tschöp.

Hintergrundinformation:
Spezielle Nervensysteme in Regionen des Hirnstamms und im Hypothalamus*
überprüfen beständig den Energiezustand des Körpers. Gleichzeitig senden
sie in Abhängigkeit von den gemessenen Werten Signale aus, um
Schwankungen in der Nährstoffversorgung auszugleichen. Diese Signale
können zu Verhaltens- und/oder Stoffwechseländerungen führen.
Das Melanocortin-System ist eines der wichtigsten Nervensysteme im
Gehirn, das die Nahrungsaufnahme und den Energiestoffwechsel
kontrolliert. Melanocortin-Nervenzellen produzieren ein Protein, das
Bindungspartner (Ligand) des Melanocortin-Rezeptors ist. Bei Menschen
führen loss-of-function Mutationen im Gen des
Melanocortin-4-Rezeptors (MC4R), bereits in jungen Jahren zu massivem
Übergewicht, einer erhöhten Magermasse (Körpermasse minus
Körperfett), Hyperphagie (Übermäßige Nahrungsaufnahme) und einer
Hyperinsulinämie (Insulinkonzentration im Blut ist über das normale Maß
hinaus erhöht).
Die Melanocortin-Nervenzellen selbst erhalten direkte Informationen vom
afferenten Vagus Nerv, der Signale von den inneren Organen ans Gehirn
sendet. Zudem empfangen sie endokrine** Signale (Leptin, Insulin,
Cholecystokinin und Ghrelin), die über die verfügbare Energiemenge im
Körper informieren.
*Der Hypothalamus ist eine kleine Hirnregion die im Zwischenhirn
lokalisiert ist. Sie ist vermutlich das wichtigste Steuerzentrum des
vegetativen Systems.
**endokrin: nach innen, ins Blut absondernd, Gegensatz: exokrin

Nach Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit und des
Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz,
sind in Deutschland mittlerweile ca. 37 Millionen Erwachsene und rund 2
Millionen Kinder und Jugendliche Übergewichtig oder adipös. Ein Viertel
der Erwachsenen leidet an Herz-Kreislauf-Erkrankungen einschließlich
Bluthochdruck.
Bei knapp 5 Millionen Menschen in Deutschland ist derzeit ein
Typ-2-Diabetes bekannt. Daneben ist mit einer Dunkelziffer in
Millionenhöhe zu rechnen, da die Krankheit zu Beginn häufig ohne
Anzeichen verläuft und erst mit jahrelanger Verzögerung erkannt wird.
Der Typ-2-Diabetes führt häufig zu schwerwiegenden Komplikationen, wie
Erblinden, Nierenversagen und Amputation von Gliedmaßen. Zudem sterben
Diabetiker früher, vor allem an Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Das Deutsche Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (DIfE)
ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Zur Leibniz-Gemeinschaft gehören
83 außeruniversitäre Forschungsinstitute und forschungsnahe
Serviceeinrichtungen. Diese beschäftigen etwa 13.700 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter (Stand 12/2006). Davon sind ca. 5.400 Wissenschaftler
(inkl. 2.000 Nachwuchswissenschaftler). Leibniz-Institute arbeiten
interdisziplinär und verbinden Grundlagenforschung mit Anwendungsnähe.
Sie sind von überregionaler Bedeutung und werden von Bund und Ländern
gemeinsam gefördert. Der Gesamtetat der Institute liegt bei mehr als 1,1
Mrd. Euro pro Jahr. Die Drittmittel betragen etwa 225 Mio. Euro pro
Jahr. Näheres unter www.leibniz-gemeinschaft.de

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