100 Jahre MICHELIN-Führer Deutschland

1964–1969: Neustart im Wirtschaftswunderland

Die erste Ausgabe nach 51 Jahren Pause erscheint 1964 mit

insgesamt 5.500 Hotel- und Restaurantempfehlungen

Im Frühjahr 1964 startet für Michelin zwischen Flensburg und

Berchtesgaden eine neue Zeitrechnung: Nach 51 Jahren Pause

kommt wieder ein MICHELIN-Führer Deutschland in den Handel.

In der Folgezeit wird der Band die Entwicklung Deutschlands vom

kulinarischen Außenseiter hin zu einem führenden Gourmet-Land

begleiten.

In der langen Zwangspause hat sich der MICHELIN-Führer vom

Ratgeber für Autofahrer zum renommierten Hotel- und

Gastronomieführer gewandelt, international berühmt vor allem

wegen seiner Sterne für eine ausgezeichnete Küche. Die heute 23

Länder abdeckende Reihe umfasst Mitte der 1960er-Jahre allerdings

gerade einmal vier Bände: Frankreich, die Benelux-Länder, Italien

und Spanien.

Deutschland ist seit 1949 in zwei Staaten geteilt. Die

Bundesrepublik im Westen ist geprägt vom dynamischen

Aufschwung der Wirtschaftswunderjahre und neben Frankreich

eine treibende Kraft der europäischen Einigung. Mit steigenden

Löhnen und Vollbeschäftigung rücken zusehends Freizeit, Reisen

und Konsum in den Blickpunkt – ausgezeichnete Rahmenbedingungen

auch für die Gastronomie. Die Deutsche

Demokratische Republik ist hinter der Mauer fast unerreichbar. Für

den MICHELIN-Führer bleibt der Weg in den Osten Deutschlands

daher bis zur Wiedervereinigung 1990 versperrt. Bis dahin

beschränkt sich die Ausgabe auf die Bundesrepublik und

Westberlin.

 

Start mit 5.500 Adressen aller Preisklassen

Der MICHELIN-Führer Deutschland 1964 ist vom Umfang ähnlich

ausgelegt wie die neueren Ausgaben. Er umfasst rund 5.500

Adressen, Sterne gibt es noch keine. Zum Vergleich: Die Ausgabe

2009 führt auf 1.512 Seiten 4.481 Hotels und 1.519 Restaurants auf,

darunter neun 3-Sterne-Häuser, 18 2-Sterne-Häuser und 189 1-

Stern-Adressen. Damals wie heute unverändert: Bei den

empfohlenen Restaurants und Hotels handelt es sich um Betriebe

aller Preisklassen – vom einfachen, gut geführten Haus bis zum

Luxushotel oder Feinschmeckerlokal

Arbeit nach dem Rotationsprinzip: die Michelin Inspektoren

Nach dem bewährten Vorbild des MICHELIN-Führers Frankreich

sind für die Deutschland-Ausgabe von Beginn an ausschließlich fest

angestellte und anonym arbeitende Michelin Inspektoren

unterwegs. Nach einer mehrmonatigen Ausbildung in Frankreich

oder Belgien, in deren Verlauf sie erfahrene Inspektoren auf ihren

Touren begleiten, gehen sie in der Bundesrepublik und Westberlin

auf Reise. Dort bekommt jeder Michelin Inspektor ein Gebiet

zugewiesen. Um zu verhindern, dass er als Tester erkannt wird,

wechselt er nach dem Rotationsprinzip in eine andere Region.

Frühestens nach zehn Jahren kehrt er wieder ins Ausgangsgebiet

zurück. Das Prinzip gilt beim MICHELIN-Führer bis heute.

 

Pro Jahr einmal rund um die Erde in Käfer und Kadett

Das Pensum, das die Michelin Tester zu bewältigen haben, ist von

Anfang an enorm: „Wir waren immer 14 Tage am Stück auf Achse,

auch am Wochenende“, erinnert sich Alfred Groß 1 , ein Michelin

Inspektor der ersten Stunde. In 35 Jahren bei Michelin legte er rund

1,4 Millionen Dienstkilometer zurück. Das entspricht rund 40.000

Kilometern pro Jahr oder einer kompletten Erdumrundung. Der

heutige Ruheständler blickt außerdem auf rund 7.000 Testessen für

den MICHELIN-Führer zurück. „Unsere Arbeitstage waren lang und

begannen damals stets mit einem Gang zur Post, wo wir die

Berichte vom Vorabend wegschickten und nachschauten, ob eine

Nachricht von der Zentrale in Karlsruhe für uns vorlag“, so Michelin

Veteran Groß weiter. „Die Touren mussten deshalb sorgfältig

geplant werden und die Übernachtungsadressen bei der Redaktion

bekannt sein.“

 

Michelin Inspektor der ersten Stunde erinnert sich

Hintergrund für diese Prozedur: Telefone in den Hotelzimmern

sind damals selbst in gehobenen Häusern kein Standard,

Mobiltelefone und Navigationssysteme pure Science-Fiction. „Das

Zurechtfinden in fremden Städten war eine Kunst. Als beliebter

Orientierungspunkt diente der Kirchturm“, berichtet Groß. Das im

Vergleich zu heute noch recht dünne Autobahnnetz erschwert die

Arbeit der Michelin Tester zusätzlich. „Von Karlsruhe nach

Nürnberg war man einen Tag unterwegs.“ Auch die Dienstwagen

1 Name von der Redaktion geändert.

bieten nur Minimalkomfort: Die Inspektoren haben die Wahl

zwischen VW Käfer und Opel Kadett.

 

Hawaii-Garnitur und Dosen-Ravioli statt frischer Produkte

Zweimal am Tag, mittags und abends, stehen Restaurantbesuche

auf dem Programm. Was die Inspektoren dabei serviert bekommen,

unterscheidet sich erheblich von moderner Restaurantküche. „Bis

weit in die 1970er-Jahre gab es in Deutschland kaum Verständnis

für verfeinerte Esskultur. Ein Großteil der Deutschen stand

raffinierten Tafelfreuden sogar eher misstrauisch gegenüber. Als

typisch für gehobene Mahlzeiten galten die Hawaii-Garnitur mit

Ananas oder Chateaubriand mit Sauce béarnaise. Statt frischer

Produkte wurden vielerorts Ravioli aus der Dose aufgetischt“, blickt

Groß zurück. „Masse ging eindeutig über Klasse“, so sein Urteil

über die Ära von Kunst-Würze, zerkochtem Gemüse und

Mehlschwitzen.

Für das gängige kulinarische Angebot finden die Inspektoren

schnell ein griffiges Kürzel: „Wir sprachen immer vom RKS-Angebot

für Rumpsteak, Kotelett, Schnitzel“, erzählt Groß. Der MICHELINFührer

Deutschland 1964 drückt es diplomatisch aus: „Die deutsche

Küche zeichnet sich weniger durch raffinierte Zubereitung der

Gerichte als durch eine gepflegte und reichhaltige Zusammenstellung

der Speisen aus.“

 

Kulinarischer Vorsprung im Südwesten

Ein Grund für die kulinarische Rückständigkeit Deutschlands:

„Viele Produkte, die für eine Spitzenküche unerlässlich sind, waren

im Großhandel kaum erhältlich. Das mussten nicht zwangsläufig

Luxusprodukte sein, sondern frische, qualitativ hochwertige

Zutaten, die eine größere Bandbreite an Geschmäcken ermöglichten“,

erinnert sich der Ex-Michelin Inspektor Groß. „Eine

Ausnahme war Süddeutschland. Die Küchenchefs hatten es dort

nicht allzu weit zum Großmarkt in Straßburg“, so der gelernte Koch

weiter.

Befördert durch die Nähe zum Elsass, bietet speziell der Oberrhein

in den 1960er-Jahren ideale Voraussetzungen für eine hochwertige

regionale Küche. Hiervon zeugen auch große Häuser, die schon

damals gastronomische Legenden sind. Etwa „Katzenbergers Adler“

in Rastatt und der „Erbprinz“ in Ettlingen, in dem auch Groß nach

Stationen im Schwarzwald und der Schweiz einige Jahre arbeitet,

ehe er zum MICHELIN-Führer wechselt. Bis heute ist der

Südwesten die Region Deutschlands mit der höchsten Dichte an

Michelin Sternen und Bib Gourmands, dem Prädikat für eine

sorgfältige Küchenleistung zu günstigen Preisen.

 

Zwei sternlose Anfangsjahre

Dass sich 1964 im MICHELIN-Führer Deutschland noch keine

Sterne finden, hängt indes nicht mit der unzureichenden

Küchenleistung selbst jener Spitzenhäuser zusammen. Der Grund

ist ein anderer: Bis heute geht der Vergabe der begehrten

Auszeichnung ein längerer Beobachtungs- und Beratungsprozess

mit diversen anonymen Testessen bei jedem potenziellen

Kandidaten voraus. Die ersten beiden Ausgaben kommen deshalb

für Sterne noch nicht infrage. „Wir hoffen jedoch, in den

kommenden Jahren auch in Deutschland Restaurants mit

lobenswerter Küche empfehlen zu können“, heißt es hierzu im

Vorwort des MICHELIN-Führers Deutschland 1964.

 

1966: die ersten 66 Sterne in Deutschland

Bereits zwei Jahre später ist es so weit: Insgesamt 66 Häuser

www.gourmet-report.de/artikel/32313/Die-Sternerestaurants-von-1966/ ). 

Bis 1969 steigt die Zahl der deutschen 1-

Stern-Adressen auf 186. Seit 1966 trägt ein einziges Haus in jeder

Ausgabe des MICHELIN-Führers einen Stern und ist damit der

beständige Klassiker in der Deutschland-Ausgabe schlechthin: das

Restaurant im Hotel „Adler“ in der Gemeinde Häusern im

Südschwarzwald.

Wie ein Zeitdokument und gleichzeitig eine Verbeugung Richtung

Frankreich lesen sich die Namen der 1966 empfohlenen Gerichte

der deutschen Spitzenhäuser: „Junge Ente Drei Musketiere“,

„Poulardenbrust Pompadour“, „Kalbsleber St. Tropez“ oder

„Froschschenkel Café de Paris“. Aber auch „Schnitzel nach Art des

Hauses“, „Matrosengericht“ und „Mastkalbsteak Fährhaus nach

Norden“ finden sich auf den Speisekarten der Sterne-Gastronomie.

 

Schwerpunkt auf Hotels

Auch wenn der MICHELIN-Führer vor allem für seine Sterne

bekannt ist: Damals wie heute machen Hotels und Pensionen den

Löwenanteil der empfohlenen Adressen aus. Das Vorwort der

Ausgabe 1964 spricht deshalb ausdrücklich vom „Hotelführer

Deutschland“. Das Spektrum der empfohlenen Häuser reicht dabei

vom Luxushotel ersten Ranges ( l – fünf Häuser) bis zum

einfachen, aber ordentlichen Gasthof ( û – Weinglas und Gabel),

eine Kategorie, die im Zuge des gestiegenen Komfortniveaus

inzwischen aufgegeben wurde. Die großen Ketten, die heute

besonders in den Großstädten die Hotellerie dominieren, sind

damals in Deutschland mit Ausnahme von Metropolen wie

Westberlin und Frankfurt am Main noch nicht vertreten.

 

Bescheidener Durchschnittskomfort

Wie durchschnittlicher Hotelkomfort vor über 40 Jahren aussieht,

dokumentieren die Piktogramme der damaligen MICHELINFührer.

Die einprägsamen Symbole weisen auf heute selbstverständliche

Ausstattungsmerkmale wie eigene Dusche, Badewanne

oder Toilette hin und informieren die Leser, ob die Zimmer über

Zentralheizung verfügen. „Keine Selbstverständlichkeit in den

Sechzigern“, erinnert sich der frühere Michelin Inspektor Groß:

„Manchmal musste man sogar Zuschlag für die Heizung zahlen.

Wenn die Räume nicht vorgeheizt waren, kam man dann am

nächsten Morgen mit triefender Nase zum Frühstück. Auch war es

ganz normal, Hotelzimmer ohne Nasszelle oder nur mit kaltem

Wasser zu erwähnen.“ Der MICHELIN-Führer hat hierfür sogar

eigene Symbole.

TV-Geräte auf dem Zimmer sind lange Zeit ebenfalls Mangelware,

sodass speziell bei Reisen in die Provinz abends schnell Langeweile

aufkommt. „Ich schleppte deshalb im Kofferraum in einer Extra-

Reisetasche immer einen eigenen Fernseher mit Zimmerantenne

mit mir herum“, berichtet Groß vom Inspektoren-Alltag vor mehr

als 40 Jahren.

 

Rund 800 offizielle Besuche pro Jahr

Damals wie heute gehören neben den Testessen auch offizielle

Besuche zur Arbeit der Michelin Inspektoren. Dabei geben sie sich

als Michelin Mitarbeiter zu erkennen und nehmen zusammen mit

einem Vertreter der jeweiligen Geschäftsleitung die Einrichtungen

eines Gastronomie- oder Hotelbetriebs in Augenschein. Diese

Inspektionen sind immer unangemeldet, oft im Anschluss an einen

anonymen Restauranttest oder eine Übernachtung, jedoch immer

erst, nachdem der Inspektor die Rechnung beglichen hat.

Rund 800 solcher Besuche absolvierte Groß pro Jahr. „Dass ich

deshalb später in einem Hotel oder Restaurant wiedererkannt

worden wäre, ist mir in meiner ganzen Zeit als Inspektor nie

passiert. Und selbst wenn man mich als Tester entdeckt hätte:

Schlimmstenfalls hätte der Küchenchef ein paar Zutaten mehr auf

meinem Teller angerichtet, was aber letztlich dem Charakter und

der Ausgewogenheit des Gerichts schaden kann.“ Von einem seiner

Kollegen allerdings berichtet der Tester im Ruhestand eine

Anekdote: Nach der Zurückstufung seines Lokals sei der Kollege

vom erbosten Wirt mit gezücktem Schlachtermesser vom Hof gejagt

worden. „Das war aber wirklich eine Ausnahme“, schmunzelt Groß,

„und ist nicht wieder passiert.“

 

Viel Überzeugungsarbeit bei den Gastronomen

Ein weitaus realeres Problem ist für Groß und seine Kollegen in den

Anfangsjahren die noch mangelnde Bekanntheit des MICHELINFührers

rechts des Rheins. Anders als in Frankreich ist der Guide in

Deutschland bis weit in die 1970er-Jahre selbst unter Gastronomen

kaum ein Begriff. Die Folge: „Viele Chefs wollten partout nicht

glauben, dass ein Reifenhersteller auch einen Hotel- und

Gastronomieführer herausbringt, und waren deshalb an einem

gemeinsamen Rundgang durch ihr Haus nicht sonderlich

interessiert. Wir mussten regelrecht Überzeugungsarbeit leisten

und uns unseren Ruf erst mühsam erarbeiten“, berichtet Groß.

Erst in den späten 1980er-Jahren etabliert sich der MICHELINFührer

auch in Deutschland als Nummer eins unter den Hotel- und

Gastronomieführern. Zu diesem Zeitpunkt beginnt eine kleine

Revolution, die die kulinarische Landschaft in Deutschland

verändern wird. Mehr darüber ist in der dritten Folge der Reihe

über die Geschichte des MICHELIN-Führers zu lesen.

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