100 Jahre MICHELIN-Führer Deutschland

100 Jahre MICHELIN-Führer Deutschland:
1990–2010: Immer auf der Höhe der Zeit

Der Hotel- und Restaurantführer erscheint im Internet
und mit neuen Symbolen für preiswerte Häuser.

In den 1990er-Jahren und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts
baut die deutsche Gastronomie ihre Stellung in Europa weiter aus.
2009 gibt es in Deutschland mit insgesamt neun 3-Sterne-Häusern
nach Frankreich europaweit die meisten Adressen der höchsten
kulinarischen Wertung. Hinzu kommen 18 2-Sterne-Häuser und
189 1-Stern-Betriebe. Auch der MICHELIN-Führer untermauert
seine Rolle als Vorreiter unter den Hotel- und Gastronomieführern:
Mit dem „Bib Gourmand“ führt Michelin 1997 eine neue
Empfehlung für eine gute, häufig regional geprägte regionale Küche
ein, die mit einem besonders günstigen Preis-Leistungs-Verhältnis
kulinarische Genüsse auch für kleinere Budgets ermöglicht. Für das
Hotelgewerbe verleiht das Unternehmen seit 2003 zusätzlich den
„Bib Hotel“, der gute Übernachtungsmöglichkeiten zu moderaten
Preisen kennzeichnet. Zudem lässt sich der MICHELIN-Führer seit
2001 auch im Internet aufrufen.

Entdeckungsreisen in die neuen Bundesländer
Dabei beginnen die 1990er-Jahre für die altgedienten Michelin
Inspektoren mit einem Déjà-vu-Erlebnis. Noch vor der deutschen
Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 gehen die Gastronomietester
auf kulinarische Entdeckungsreise in den neuen Bundesländern
– und stoßen dabei auf Gerichte, die, deftig und üppig
portioniert, schon einmal in der Bundesrepublik in den 1960er-
Jahren modern waren. Alfred Groß1, der 35 Jahre lang als Michelin
Inspektor tätig war, erinnert sich gut an „automordende Straßen
voller Schlaglöcher und abenteuerliche Übernachtungen in
Arbeiterwohnheimen oder Mutter-Kind-Unterkünften“.

Anfangs konzentrieren sich die Michelin Tester auf touristisch
interessante Gebiete wie Rügen, Usedom und das Erzgebirge. Hinzu
kommen Großstädte wie das frühere Ostberlin, Leipzig und
Dresden. In der sächsischen Hauptstadt küren sie 1995 mit dem

Restaurant „Erholung“ auch das erste 1-Stern-Haus in den neuen
Bundesländern. In der Deutschland-Ausgabe 2009 folgt mit dem
„Falco“ in Leipzig der erste 2-Sterne-Betrieb. Trotz erfreulicher
Aufwärtstendenzen im Osten bleibt es bei der kulinarischen Teilung
Deutschlands. „Es gibt in der deutschen Küche traditionell ein Süd-
Nord-Gefälle und ein West-Ost-Gefälle“, präzisiert Groß. „Eine
Ausnahme bilden lediglich die Großstädte.“ Früher wie heute findet
sich die größte Dichte an Sterne-Restaurants und Bib-Gourmand-
Adressen in Baden-Württemberg.

Start ins digitale Zeitalter
Auch in anderer Hinsicht sind die frühen 1990er-Jahre für die
Michelin Inspektoren spannend: Die professionellen Restaurantprüfer
testen auf ihren Fahrten durch Deutschland in einem
Pilotprojekt die ersten GPS-Navigationssysteme. „Mit dem
flimmernden Bildschirm im Auto fielen wir natürlich auf und
wurden von neugierigen Passanten manchmal darauf angesprochen.

Das machte es nicht immer leicht, anonym zu bleiben“,
erinnert sich Groß. Zugleich stellen die Inspektoren die
Koordinaten von Sehenswürdigkeiten, Restaurants und Hotels
zusammen. Diese dienen als Grundlage für den Internet-
Routenplaner www.ViaMichelin.com , der 2001 ins Netz geht.

Heute deckt ViaMichelin 45 Länder, über neun Millionen
Straßenkilometer sowie 55.000 in den MICHELIN-Führern gelistete
Hotels und Restaurants ab. Die Informationen sind auf Französisch,
Englisch, Deutsch, Italienisch und Spanisch verfügbar. Der Nutzer
kann seine Wunschadresse nach mehreren Kriterien finden. Zur
Wahl stehen unter anderem Preis, Parkplatz, Schwimmbad,
Internet-Zugang oder Einrichtungen für Behinderte. Die Daten
lassen sich weiterversenden und in ein Navigationssystem
übertragen. Mit mehr als zehn Millionen Besuchern pro Jahr und
rund 30.000 Besuchern pro Tag erfreut sich die Rubrik „MICHELINFührer“
außerordentlich großer Beliebtheit.

Kulinarisches Hoch durch Witzigmanns „Enkel “
Die Jahre zwischen 1995 und 2010 sind auch in kulinarischer
Hinsicht äußerst fruchtbar. Dazu Ralf Flinkenflügel, der
Chefredakteur des MICHELIN-Führers Deutschland: „In den
vergangenen 15 Jahren gab es in der deutschen Top-Gastronomie
nochmals einen deutlichen Schub nach vorne.“ Ein wichtiger
Grund: „Viele Schüler von Starkochs wie Eckart Witzigmann und
Heinz Winkler eröffneten ihre eigenen Restaurants. Dort bildeten
sie ihrerseits ausgezeichnete Schüler aus, die sich ebenfalls später
selbstständig machten.“ Die Alternative: Um das wirtschaftliche
Risiko eines Einstiegs in die Top-Gastronomie zu verringern,
begeben sich zahlreiche junge Küchenchefs unter das Dach eines
großen Hotels – ein Arrangement, von dem beide Seiten profitieren.

Zusätzlich zur Nouvelle Cuisine französischer Prägung zeichnet
sich seit den 1990er-Jahren die Tendenz zu einer verfeinerten
Regionalküche mit hochwertigen heimischen Produkten ab.

Europaweit die Nummer zwei bei 3-Sterne-Adressen
Listet der MICHELIN-Führer Deutschland 1990 noch drei Häuser
mit der kulinarischen Maximalauszeichnung von drei Sternen auf,
so bewerten die Tester 2008 und 2009 jeweils neun Adressen mit der
Bestnote. Damit weist Deutschland nach Frankreich europaweit die
meisten Adressen der 3-Sterne-Klasse auf. Neben dem Angebot an
gehobenen kulinarischen Genüssen steigt auch die Nachfrage, „in
jüngster Zeit besonders erkennbar an der wachsenden Zahl von
Kochshows und Kochsendungen im Fernsehen“, so Flinkenflügel.

Der frühere Michelin Inspektor Groß ist überzeugt, dass sich der
Aufwärtstrend in der deutschen Top-Gastronomie trotz der aktuell
schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen fortsetzen wird:
„Es gibt viele gut ausgebildete und ehrgeizige Jungköche, die zeigen
wollen, was sie können, und es gibt das Publikum dafür.“

Als Information für kulinarisch interessierte Leser führt der
MICHELIN-Führer Deutschland 2006 die neue Kategorie der
„Hoffnungsträger“ ein. Hierbei handelt es sich um Restaurants, die
bei weiterhin konstant hoher Küchenleistung darauf hoffen
können, in Zukunft mit einem Michelin Stern ausgezeichnet zu
werden oder in die nächsthöhere Sterne-Kategorie aufzurücken.

Der MICHELIN-Führer hebt diese Adressen ab 2007 auch im
Hauptteil durch einen rot gedruckten Namen hervor.
Auch dem Trend zum gehobenen Weingenuss trägt der Hotel- und
Gastronomieratgeber Rechnung: 2004 führt Michelin ein eigenes
Symbol für eine besonders attraktive Weinkarte ein. Dazu der
frühere Hotel- und Restauranttester Groß: „Parallel zum Niveau der
Küche hat sich seit den Sechzigerjahren das Niveau der Weine in
der Gastronomie deutlich gesteigert. Dies betrifft nicht nur die
Spitzenadressen mit Stern, sondern auch einfachere Häuser.“

Die „Bibs“: beliebte Empfehlungen für preiswerte Adressen
Zwar ist der MICHELIN-Führer für sein Sterne-System berühmt,
das auf Restaurants mit einer überdurchschnittlich guten Küche
hinweist. Der Erfolg der Reihe basiert jedoch auch auf der großen
Auswahl von Restaurants und Hotels zu moderaten Preisen. Für
Häuser, die auf den kleineren Geldbeutel zugeschnitten sind, führt
Michelin in Deutschland 1997 die Auszeichnung Bib Gourmand
und im Jahr 2003 die Empfehlung Bib Hotel ein. Namensgeber ist
das freundliche Michelin Männchen „Bibendum“ oder kurz „Bib“.
Beide „Bibs“ kommen bei den Lesern des MICHELIN-Führers sehr
gut an.

Der Bib Gourmand kennzeichnet Restaurants mit einem besonders
guten Preis-Leistungs-Verhältnis: Das Limit in Deutschland beträgt
35 Euro für ein Drei-Gänge-Menü. In der Regel handelt es sich
hierbei um kleine, sympathische Häuser, die eine regional geprägte
Küche bieten und familiär betrieben werden. Es finden sich
darunter aber auch moderne Bistros, Restaurants mit
internationaler Küche und so manches Zweitrestaurant eines
bekannten Spitzenkochs. Dazu Groß: „Der Trend bei vielen Top-
Gastronomen geht zum einfacheren Zweitrestaurant, das
bezahlbare und authentische Küche in guter Qualität bietet.“
Die Häuser mit Bib Hotel finden sich nicht in den gängigen
„Bestenlisten“ der Top-Hotels. Es handelt sich stattdessen um
Adressen mit gemäßigten Preisen, die sich für eine Übernachtung
auf einer Geschäftsreise oder auch für einen längeren Urlaubsaufenthalt
eignen. Bei der Vergabe des Bib Hotel achten die
Michelin Inspektoren nicht nur auf den zeitgemäßen Komfort der
Zimmer, sondern auch auf die Freundlichkeit des Personals und ein
gutes Frühstücksangebot.

Immer aktuell: die Piktogramme
Um dem gewandelten Reise- und Freizeitverhalten seiner Leser,
aber auch dem technischen Fortschritt Rechnung zu tragen,
aktualisiert Michelin auch in den zwanzig Jahren zwischen 1990
und 2010 permanent die Piktogramme des Hotel- und
Gastronomieführers. Er präsentiert sich also stets auf der Höhe der
Zeit. Darf in den 1990er-Jahren beispielsweise für
Geschäftsreisende der Hinweis auf einen Modem- und
Faxanschluss im Zimmer nicht fehlen, so sind mittlerweile Symbole
für Internetzugang mit DSL oder W-LAN an dessen Stelle getreten.

Das Piktogramm „Fernsehen im Zimmer“ verschwindet mit dem
Start ins 21. Jahrhundert ganz aus dem MICHELIN-Führer. „Früher
war der Fernseher ein absolutes Komfortmerkmal, heute gehört er
selbst in einfachen Gasthöfen zum Standard“, kommentiert
Michelin Veteran Groß diese Entwicklung. „Das eigene TV-Gerät,
wie früher, müsste ich heute jedenfalls nicht mehr auf Dienstreise
mitnehmen“, ergänzt Groß.

Wellness-Symbol und Kurztexte
Der Trend zu Wellness-Urlauben und –Wochenenden findet im
MICHELIN-Führer ebenfalls seinen Niederschlag: Seit 2003
überprüfen die Inspektoren alle Häuser auch hinsichtlich ihres
Wellness-Angebots. Ein entsprechendes Piktogramm weist auf
besonders angenehme Einrichtungen hin. Seit 2006 ergänzt eine
Liste der ausgezeichneten Wellness-Hotels die Piktogramme. Die
Ausgabe 2006 erscheint darüber hinaus mit modernisierten
Symbolen, die es den Lesern erlauben, sich noch schneller
zurechtzufinden.

Ebenfalls 2003 erscheint die Deutschland-Ausgabe erstmals mit
informativen Zwei- bis Vierzeilern zu jedem empfohlenen Hotel
und Restaurant. Sie stellen kurz und knapp Küchenstil, Ambiente
und Service des Hauses vor. „Die Inspektoren müssen allerdings
nicht selbst texten, hierfür gibt es spezielle Redakteure. Grundlage
sind die Berichte und Auskünfte der Inspektoren“, so Redaktionschef
Flinkenflügel.

Der MICHELIN-Führer für das iPhone
Weiteres Novum: Seit Mai 2009 können Nutzer eines Apple iPhone
die Restaurantempfehlungen aus dem MICHELIN-Führer
„Deutschland“ und anderen europäischen Ländern, auf ihr
Mobiltelefon laden. Neben Adresse, Telefonnummer und Öffnungszeiten
umfassen die Listen die Kurzkommentare zu jedem Haus aus
dem MICHELIN-Führer. Auszeichnungen wie Michelin Sterne und
Bib Gourmand komplettieren die Verzeichnisse.

Die iPhone-Applikationen ermöglichen es den Nutzern, in
Sekundenschnelle ein Restaurant mit guter Küche in ihrer Nähe zu
finden und dort einen Platz zu reservieren. Weiterer Service: Die
Kunden können Kommentare zu den einzelnen Häusern abgeben,
die für andere Kunden sowie Nutzer der Internetseite
www.ViaMichelin.com einsehbar sind. Voraussetzung ist eine
Registrierung beim Online-Service „Mein ViaMichelin“.

Mit Laptop und Leidenschaft
Auch in die tägliche Arbeit der Michelin Inspektoren halten seit den
1990er-Jahren Laptop, E-Mail und Mobiltelefon Einzug. „Früher
wurde alles auf Papier notiert und gleich am nächsten Morgen per
Post nach Karlsruhe zur Zentrale geschickt. Heute ist das Arbeiten
durch die Technik viel einfacher geworden“, so Groß, der in 35
Jahren als Inspektor beide Arbeitsweisen kennengelernt hat.

Unabhängig davon bleiben ein gutes Geschmacksgedächtnis und
die Fähigkeit, die Einschätzung eines Hauses und seiner Küchenleistung
präzise zusammenzufassen, die entscheidenden Faktoren
für die Arbeit der professionellen Hotel- und Restauranttester von
Michelin. Groß: „Es ist ein Beruf, der viel Herzblut erfordert.“ Der
Inspektor im Ruhestand hat über 400 Kochbücher zu Hause und
steht jetzt, wo er Zeit dafür hat, auch häufig selbst am Herd. „Auf
Bib Gourmand Niveau“ schätzt er seine Kochkünste ein. Auch seine
Lust auf Restaurantbesuche hat sich der gelernte Koch bewahrt.
„Ich lasse dann aber den Inspektor in mir zu Hause und erfreue
mich einfach am Essen und am Zusammensein mit meinen
Tischgenossen.“

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