Moderne Ernährungsmärchen

Ernährungsexperten decken auf!

Moderne Ernährungsmärchen und dicke Diätlügen beherrschen das Ernährungswissen

Im Frühjahr entdecken viele Menschen ihre Liebe für eine gesundheitsbewusste Ernährungsweise und andere wollen dem Winterspeck an den Kragen gehen. Die Aachener Ernährungswissenschaftlerin und Publizistin Dipl. oec. troph. Bettina Geier führte vor diesem Hintergrund ein Interview mit den Autoren des brisanten Ratgebers „Moderne Ernährungsmärchen“ Doreen Nothmann und Sven-David Müller. Sie entlarven in ihrem Werk die Machenschaften der Nahrungsmittelindustrie und zeigen auf, wie Lobbyisten Wissenschaft verdrehen, um den Absatz von bestimmten Lebensmitteln zu fördern oder zu hemmen. Es gibt so viele Ernährungsmärchen und Diätlügen, die die Ernährungswissenschaftlerin Dipl. troph. Doreen Nothmann, Institut für Neurophysiologie der Medizinischen Hochschule Hannover, und der Diätassistent Sven-David Müller, Zentrum für Ernährungskommunikation, Diätberatung und Gesundheitspublizistik in Berlin, in ihrem Buch entlarven. Auf 160 Seiten enträtseln die Autoren mehr als 70 moderne Ernährungsmärchen.

1. Ihr Buch „Moderne Ernährungsmärchen“ zielte bereits in der ersten Auflage darauf ab, Aufklärung hinsichtlich unwahrer Mythen der Ernährungswelt zu leisten und den Menschen die Angst vor bestimmten Nahrungsmitteln zu nehmen. Welche Veränderungen, Frau Nothmann, konnten Sie persönlich seit Erscheinen der ersten Auflage in den Medien oder in direkter Berührung mit Menschen feststellen? D.N.: Das Interesse an der Identifizierung von Lügen im Gesundheitssektor oder eben wie in diesem Fall im Bereich der Ernährung ist immer wieder groß. Am wichtigsten scheint es den Medien dabei natürlich zu sein, Negativtrends darzustellen. Aus ökonomischen Gründen müsste man fast von einem „leider“ sprechen, denn die Modernen Ernährungsmärchen waren zunächst als ein positives Aufklärungsbuch gedacht. Dennoch haben sich die Vertreter der Presse immer wieder gern auf die Warnungen des Werkes gestürzt. Die Aussage „Bad News are good News“ scheint für große Teile der Medienlandschaft insbesondere bei Ernährungs- und Gesundheitsthemen zuzutreffen. Leider. Ein positiver Aspekt wurde glücklicherweise immer wieder aufgegriffen: Ernährungsexperten sprechen sich erstmalig GEGEN ein Verbot von Süßigkeiten aus.

2. Was war der Grund für die kürzlich erschienene zweite Auflage, Herr Müller? Was hat sich im Vergleich zur ersten Ausgabe geändert und warum soll ich mich als Leser für den Kauf entscheiden? S.-D.M.: In der Ernährungslandschaft ändern sich viele Wahrheiten. Neue Studien bringen neue Erkenntnisse. Noch vor kurzer Zeit mussten selbst Puristen zugeben, dass die Atkinsdiät und andere kohlenhydratarme Diätkostformen wohl gute Effekte bei der Bekämpfung von Übergewicht haben. Inzwischen ist wieder Ernüchterung eingekehrt. Wir wollen mit der zweiten Auflage die Machenschaften der Industrie und der Lobbyisten darstellen. Dass Olivenöl so gut ist, scheint eher den EG-Absatzstrategien, die gegen den Olivenölsee unterhalb des ehemaligen Butterberges kämpfen, zu entstammen als der Wissenschaft. Olivenöl und mediterrane Kost gleichzusetzen ist schon fadenscheinig. Nein, falsch. Die Industrie macht dreistellige Milliarden-Eurobeträge Umsatz im Lebensmittelbereich. Hier ist nicht alles wahr, was behauptet wird. Wir möchten auch die Medien und die Verbraucher vor „ausgewiesenen Nichtexperten“ (TV-Köche, Fitness-Gurus und Konsorten) schützen, die inzwischen die Ernährungsaufklärung bestimmen. Wenn sich Lebensmittelchemiker zu Abläufen im menschlichen Körper äußern, ist das nur noch als merkwürdig zu bezeichnen. Noch viel schlimmer sind die Fernsehköche, die nun wirklich überhaupt keine Ausbildung im Bereich Ernährungsphysiologie, nutritiver Medizin oder Diätetik haben. Aber auch sie plappern im Fernsehen munter und die Bevölkerung hört ihnen zu. Das ist ja fast so, als würde ich als Diätassistent und Diabetesberater Interviews über Probleme im Bereich Einkommensteuer geben. Das würde mir doch wohl hoffentlich niemand zutrauen und auch niemand glauben.

3. Welche Zeitdauer braucht es Ihrer Meinung nach, bis „eingefleischte“ Märchen aus den Köpfen der Menschen verschwunden sind und welchen Anteil kann dabei ein Buch haben? D.N.: Manche Ernährungsmärchen werden es wohl nie aus den Köpfen der Menschen heraus schaffen. Aber andere erleben einen raschen Einsichterfolg. Das hängt so ein wenig von der Bequemlichkeit der Bevölkerung ab. Wer ändert schon gerne etwas an seinen Gewohnheiten? Dinge, die einen reellen Einschnitt in die gewohnte Lebensweise hervorrufen würden, haben wenig Aussicht auf Erfolg. Es sei denn, dem Märchen wohnt der Zauber eines echten handfesten Skandals inne.

4. Stellen denn diese unwahren, aber zum Teil nahezu „lieb gewonnen“ Märchen und Mythen wirklich eine gesundheitliche Gefahr dar? D.N.: Einige natürlich schon. Die Risiken des Fastens, Rohköstlerdaseins und Alkoholabusus sind einfach nicht von der Hand zu weisen. Doch auch hier ist die Medienwelt und Bevölkerung sichtlich weniger aufzuwühlen, als bei einem handfesten Lebensmittelskandal oder einem neu identifizierten angeblich gesundheitsschädigenden Zusatzstoff im Essen. Dabei wird zu selten über die Gefahren von Überernährung und Bewegungsmangel berichtet. Aber wer hört, sieht oder liest das auch schon gerne – insbesondere, wenn er selbst betroffen ist, und von Übergewicht ist nun einmal weit über die Hälfte der Bevölkerung betroffen.

5. Greift Ihr Buch neben jahrzehntelang herrschenden Ammenmärchen auch aktuellere Skandalthemen der jüngeren Vergangenheit auf? S.-D.M: Natürlich. Gerade der Bereich der Zusatzstoffe war uns wichtig. Hier herrscht so viel Unsicherheit. Die meisten Zusatzstoffe sind sicher. Aber bei Glutamat gibt es aktuelle Studien, die zeigen, dass Glutamat zu einer Insulinresistenz führen könnte. Und das könnte ein Punkt in der Entstehung von Übergewicht sein. Ich würde, bis größere Klarheit gegeben ist, auf Glutamat verzichten. Immer wieder aktuell scheint die Süßstoff-Diskussion zu sein. Obwohl seit über 100 Jahren Süßstoffe von vielen hundert Millionen Menschen täglich verzehrt werden und niemals etwas passiert ist, gibt es Negativberichte. Die Verwendung von Süßstoff war doch wohl der größte „Feldversuch“ überhaupt. Täglich verzehrt weltweit eine Milliarde Menschen Süßstoff, und Constantin Fahlberg entdeckte den ersten Süßstoff (Saccharin) bereits 1878. Nach über 120 Jahren hätte es längst klare Beweise für die Schädlichkeit von Süßstoffen gegeben. Aber der Kampf der Zucker- und Süßstofflobby verwirrt den Verbraucher und sorgt für immer neue Schockbotschaften. Und klar ist, dass Süßstoffe wohl unbedenklich sind. Sicher lösen sie keinen Appetit aus oder machen gar dick. Als Mastmittel sind sie niemals eingesetzt worden. Aber die Geschichte ist halt zu schön, dass sie immer wieder berichtet wird. Bad news are good News, und paradoxe Dinge wie „Süßstoff macht Hunger“ sind ein gefundenes Fressen für die Medien. Auch wenn sie nachgewiesenermaßen falsch sind. Oder die Salz-Story. Studien beweisen, dass Salz praktisch keinen Einfluss auf den Blutdruck hat. Salz löst natürlich keinen Bluthochdruck aus und Zucker ist natürlich nicht verantwortlich für die Kariesepidemie. Und trotzdem wird vor Salz und Zucker gewarnt. Warum bloß? Aber wir haben keinen Paprikaskandal oder einen Gammelfleischskandal in unserem Buch aufgegriffen. Jeder Verbraucher kann aus unserer Sicht selbst entscheiden, ob er „Billigstfleisch“ einkauft, und daran riechen und es in Augenschein nehmen kann er auch. Die Hauptrisiken stecken nach einhelliger wissenschaftlicher Meinung in Über- und Fehlernährung und nicht in Schad- oder Zusatzstoffen.

6. Gibt es eine bestimmte Zielgruppe, der Sie das Buch besonders ans Herz legen? D.N.: Ja, allen, die das Buch nie kaufen würden oder wollen, weil ihnen ihr Essverhalten egal ist oder der Inhalt des Buches als unangenehm erscheint. (lacht) Grundsätzlich sind wir aber sehr glücklich, dass wir keine spezifische Zielgruppe ansprechen und sich erfahrungsgemäß jeder mit den Themen der Modernen Ernährungsmärchen beschäftigen kann und will. Und genau so ist es auch geschrieben: leicht verständlich und trotzdem etwas provokativ, mit einem Funken Ironie. Das Buch spricht somit schlichtweg jeden an, ist zwar wissenschaftlich untermauert, aber eben keine langweilige Aneinanderreihung von Studien.

7. Warum kann sich der Leser sicher sein, mit wissenschaftlich fundierten und nicht einseitig recherchierten Aussagen in Ihrem Buch konfrontiert zu sein? D.N.: Für mich ist wissenschaftliches Arbeiten mein tägliches Brot. Dafür muss ich stets und ständig sämtliche Sichtweisen in meinen Betrachtungswinkel einbeziehen. Trotzdem ist es immer wieder notwendig, eine klare Meinung zu äußern, die mitunter auch der Ansicht einiger Experten widerspricht. Und letztendlich darf man nie vergessen, dass sich gerade im Bereich der Ernährungswissenschaft einmal getroffene Aussagen oft revidieren. Dennoch war es mir bei der Recherche zu diesem Buch wichtig, genau zu schauen, auf welche wissenschaftlich fundierte Aussage ich Bezug nehmen kann, welche Studie am überzeugendsten war und welche Kernaussagen ich mit meinem Fachwissen als vertretbar ansehe.

8. Dem Leser wird durch die Lektüre ja ein Teil seines verinnerlichten Ernährungswissens genommen und damit womöglich eine gewisse Orientierungslosigkeit herbeigeführt. Geben Sie dem (im schlimmsten Fall) verwirrten Leser in Ihrem Buch auch Hilfe, wie eine wirklich GESUNDE Ernährungsweise umzusetzen ist? S.-D.M.: Eine gesundheitsförderliche Ernährungsweise ist nicht kompliziert in den Alltag zu integrieren. Es ist auch nicht teuer, denn gesundheitsförderliche Lebensmittel sind nicht teuer. Aber es sind nicht viele Regeln einer gesunden Ernährungsweise wissenschaftlich eindeutig bewiesen. Außerdem gibt es keine gesunden oder gar vollwertigen Lebensmittel – lediglich die gesamte Ernährungs- und Lebensweise kann als gesundheitsförderlich oder -schädlich bezeichnet werden. Was sicher bleibt, ist, dass wir täglich mehrfach Gemüse und Frischobst essen sollten. Wichtig ist auch, dass wir es in roher und gekochter Form aufnehmen sollten. Und reichlich Wasser trinken scheint auch gut zu sein. Seefisch scheint Vorteile zu haben, und viel rotes Fleisch – also eisenreiches Fleisch – scheint weniger gesundheitsförderlich zu sein. Scheinbar brauchen wir auch mehr Omega-3-Fettsäuren. Rohe Getreideprodukte sind wohl kein guter Bestandteil einer gesunden Ernährungsweise. Niemals Alkohol zu trinken, scheint eher schädlich, als mehrfach in der Woche eine kleine Menge Alkohol – in welcher Form auch immer – aufzunehmen. Gut für eine optimierte Gesundheit scheinen auch Sojaprodukte und fettarme Milchprodukte zu sein. Ob eine Nahrungsergänzung sinnvoll ist, lässt sich abschließend noch nicht bewerten. Aber Mangelernährung ist in jedem Falle bedenklich. Natürliche Nahrungsergänzungsmittel – Konzentrate aus Lebensmitteln wie Tomatenmark, Bierhefe, Sanddornsaft oder Hagebuttenkonzentrat – scheinen gesundheitsförderlich. Sicher gesund sind auch bestimmte Mikroorganismen, die zur Gruppe der Probiotika gehören. Ich würde hier eher auf Kefir, frisches Sauerkraut, nicht erhitzten Joghurt und Brottrunk setzen als auf „künstliche“ probiotische Produkte. Natürlich, regional und saisonal sollten die Gradmesser in der Bewertung einer guten Ernährungsweise sein. Und Verbote gehören in der Ernährungsinformation verboten. Kräuter und Gewürze sind sicher wichtig. Viel mehr wissenschaftlich eindeutig abgesicherte Regeln kann man wohl nicht geben. Doch: Fast Food und Fertigprodukte sind frischen selbst zubereiteten Speisen unterlegen. Außerdem brauchen wir alle einen entspannteren Umgang mit dem Essen und beim Essen.

9. Zum Abschluss noch eine persönliche Frage an Sie zum spannenden Kapitel „Rinderblut in Schokolade“ in Ihrem Werk: Haben Sie selbst den Mythos eine Zeitlang als möglicherweise wahr empfunden? S.-D.M.: Nein, keine Sekunde. Eine Firma, die Rinderblut oder Bestandteile daraus in ihrer Schokolade hätte, könnte ja sofort einpacken. Aber das ist so ein typisches Bespiel für Fehlberichterstattung und Bangemachen der Verbraucher. Über Jahre wurde über „Kunstfette“ gesprochen, obwohl es diese in Deutschland nicht gibt. Hauptsache, die Schlagzeile steht und der Verbraucher steht im Regen. Ich freue mich, wenn wir durch das Buch „Moderne Ernährungsmärchen“ eine lebhafte Diskussion anstoßen können und die Leser viele wichtige Informationen erhalten. Außerdem sollen sie die oftmals unbegründete Angst vor Lebensmitteln verlieren. Schrecklich finde ich, dass sogar behauptet wird, dass Zucker süchtig macht und Schweinefleisch ungesund ist. Diese Aussagen entbehren jeder Grundlage!

Bibliografische Daten: Moderne Ernährungsmärchen, 2. aktualisierte und erweitere Auflage, Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Hannover, Doreen Nothmann/Sven-David Müller,
ISBN 10-3-899963-524-1
Preis: 12,90 Euro.

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