Bernhard Steinmann interviewt Marie-Anne Wild

Das Berliner Restaurant Tim Raue wird seit Jahren mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet, erhält vom Gault&Millau Deutschland sagenhafte 19,5 Punkte und vom Grossen Guide 5 Hauben. Außerdem ist es das einzige deutsche Restaurant auf der Liste der The World’s 50 Best Restaurants, derzeit Platz 40.

Kopf und Herz des Restaurants ist Marie-Anne Wild. Sie ist Eigentümerin, Geschäftsführerin und Gastgeberin im 2010 eröffneten Restaurant. Mit ihr konnte ich das nachfolgende Interview führen:

Bernhard Steinmann (B.St.): Sie sind Geschäftsführerin und Eigentümerin des Restaurants Tim Raue. Ein Restaurant, das viele internationale Gäste schätzen und das bisher einzige in Deutschland, das in der viel beachteten Netflix-Doku-Serie „Chef´s Table“ vorgestellt wurde. Kann es noch größeres Lob geben?

Marie – Anne Wild (M.-A.W.): Ich glaube, dass das größte Lob für uns Gäste sind, die glücklich das Restaurant verlassen, mit einem Lächeln auf den Lippen und Freude im Herzen. Was uns besonders freut ist, dass Gäste nach dem Besuch eine E-Mail schicken oder eine Postkarte und uns ein persönliches Feedback geben. Das empfinden wir alle als große Auszeichnung.

B.St.: Ich habe Sie allerdings in der Netflix-Folge nicht gesehen. Was war passiert?

Marie-Anne Wild (© Nils Hasenau)

M.-A.W.: (Lacht) Ich war auch erstaunt, als ich das zum ersten Mal gesehen habe. Die haben mich einfach rausgeschnitten, als ob ich nicht existiere. Ich habe stundenlang mit Interviews verbracht und nichts war zu sehen. 

Tim und ich waren in New York. Netflix hat uns begleitet als wir Nr. 34der Liste der 50 Best Restaurants wurden und die haben es tatsächlich geschafft alles so zu schneiden, dass ich nicht darin vorkam. Das erstaunt mich noch immer.

Eigentlich ist es unfassbar, dass man als Eigentümerin und Geschäftsführerin eines international anerkannten Restaurants einfach nicht wahrgenommen wird.

B.St.: Seit dem Frühjahr 2020 hat uns die Coronakrise im Griff. Wie hat sich das auf Ihr Unternehmen ausgewirkt:

M.-A.W.: Nun, das Jahr hatte seine Höhen und Tiefen. Ich hätte anfangs nie gedacht, dass uns dieses Thema so lange beschäftigen würde. Wir befinden uns Mitte Februar 2021 noch immer im Lockdown.

Anfangs durften wir bis 22:00 Uhr öffnen. Danach bis 18:00 Uhr. Dann mussten wir gänzlich schließen. Wir haben sehr früh mit den Vorbereitungen für einen Liefer- und Abhol-Service begonnen. „Fuh Kin Great“ haben wir das genannt. Damit waren wir beschäftigt und das hat uns auch gut abgelenkt. Wir haben auch früh gemerkt, dass dies unsere Haupteinnahmequelle werden wird.

Nachdem wir wieder unter Einschränkungen öffnen konnten, war es mein Wunsch, den Lieferservice beizubehalten. Viele Menschen blieben ja im Homeoffice und denen wollten wir die Möglichkeit geben, ein Vier-Gang-Menü abzuholen. Das war auch eine gute Übung für den Service und die Küche, die einstudierte Abläufe weiterhin verbessern konnten. Es war ja nicht auszuschließen, dass die Restaurants wieder schließen mussten und wir hätten dann von vorne beginnen müssen. Organisation, Kommunikation mit den Gästen, das alles ist vollständig anders als ein Normalbetrieb im Restaurant.

Dann kam der zweite Lockdown und ich wollte mich nicht auf die angekündigten „Novemberhilfen“ und „Dezemberhilfen“ verlassen. Natürlich hat uns die Ankündigung gefreut. Schließlich waren wir auch gestresst und müde von den ganzen Herausforderungen, die auf uns zukamen. Wir mussten uns jedes Mal auf neue Situationen einstellen.

Anfangs dachte ich, wenn die Regierung, wie angekündigt, 75 % des Umsatzes leistet, können wir die Mitarbeiter mal zu Hause lassen und selbst auch einmal abschalten. Doch leider war kein klares Konzept erkennbar. Wir wussten nicht, wann wir die Hilfen beantragen konnten, eine Software fehlte ebenfalls. Ich konnte nicht glauben, dass das funktionieren würde. Schnell war für uns klar, dass wir den Lieferservice weiterhin aufrechterhalten wollten und – zwar auf deutschlandweit erweitert. Langfristig hätten wir vom Berliner Markt alleine nicht existieren können. 

Man muss klar sehen, dass wir kein kleines Gasthaus sind sondern ein Zwei-Michelinsterne-Restaurant mit einem ganz anderen Kostengerüst. Wir haben hohe Personalkosten, wir haben immer zwischen 33 und 38 Mitarbeitern. Wir haben eine hohe Miete, was den großen Räumlichkeiten geschuldet ist. Natürlich brauchen wir Lagermöglichkeiten. Es gibt so viele Dinge, die man einfach nicht runterfahren kann. Daher war es mein Bestreben auch ohne Novemberhilfen durch den Lockdown zu kommen. Wir haben noch immer keine Novemberhilfen bekommen, noch nicht einmal eine Abschlagszahlung.

Den Lieferservice betreiben wir sehr professionell, denn mir war bewusst, dass wir nicht nur so über die Runden kommen wollten sondern allen klar war, dass dies für lange Zeit unser normales Geschäft sein würde. Für den Februar zumindest kommen wir dadurch aus der Kurzarbeit heraus.

B.St.: Ich gehe einmal davon aus, dass bei so vielen Mitarbeitern nicht alle im Lieferservice eingebunden sind. Damit bleibt nur noch das Kurzarbeitergeld übrig, was natürlich mit einem Einkommensverlust verbunden ist. Wie ist die Stimmung bei Ihren Mitarbeitern?

A.-M.W.: Bis auf wenige Ausnahmen konnten wir alle Mitarbeiter einbinden.

Im Januar 2021 hatten wir Betriebsurlaub, auf Empfehlung der Bundesregierung. Für diese Zeit gab es kein Kurzarbeitergeld. 

Ansonsten haben wir das Kurzarbeitergeld in jedem Monat seit Anbeginn der Pandemie auf 100 % aufgestockt. Schließlich empfinden wir es als Verpflichtung den Mitarbeitern gegenüber zu zeigen, wie wichtig sie für den Betrieb des Restaurants sind, dass sie Rückhalt bei uns finden.

Die Mitarbeiter sind unglaublich engagiert und mit Herzblut bei der Sache. Diese ganze Situation mit Corona hat uns noch mehr zusammengeschweißt.

B.St.: Das letzte informelle Treffen der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin hat für die Gastronomen eine unangenehme Überraschung gebracht. Zwar ist die Senkung des Inzidenzwertes von 50 auf 35 nicht neu, sie stand bereits im Infektionsschutzgesetz, allerdings habe ich eine Perspektive für die Gastronomie aus der Sitzung nicht wahrnehmen können. Wie haben Sie das Ganze aufgenommen?

A.-M-W.: Mit Verwunderung (Lacht). Ich habe mich im September/Oktober 2020 an die Bundesregierung gewandt mit dem Vorschlag einer Hygienezertifizierung für Restaurants. Wir haben selbst früh ein Hygienekonzept entwickelt, damit der Gast sich bei uns sicher und wohlfühlen kann. Dazu benötigen wir natürlich auch die Unterstützung der Regierung, die sich allerdings mit uns überhaupt nicht befasst. Wir haben immerhin mit der DEHOGA Berlin (Deutscher Hotel- und Gaststättenverband) einen starken Unterstützer. Die DEHOGA sucht das Gespräch mit der Politik.

Es ist aber im Augenblick so, als würde man gegen Wände rennen. Es gibt derzeit keinen klaren Plan, wie Restaurants wieder geöffnet werden können.

B.St.: Von Ihrem Vorschlag der Zertifizierung habe ich gelesen. Haben Sie denn eine Antwort bekommen?

A-M.W.: (Lacht). Nein. Natürlich nicht. Zwar habe ich von vielen Gastronomen ein positives Feedback bekommen, von der Politik habe ich nichts gehört. 

Es gibt tatsächlich einige Zusammenschlüsse, die solche Zertifizierungen auf den Weg bringen wollen, aber es fehlt an der staatlichen Unterstützung.

Ich möchte aber auf jeden Fall klarstellen, dass der kleine Betrieb oder der mittelständische Betrieb nicht auch noch dafür bezahlen kann, dass er zertifiziert wird. Bei all dem Geld das aufgewendet wird um Gaststätten geschlossen zu halten, müssten wir viel mehr Unterstützung haben für den Kauf von Lüftern und Virenfiltern, Handschuhen, Masken und andere Sachen, damit sicher geöffnet werden kann.

B.St.: Ich möchte noch zu einem anderen Thema kommen.

Ich habe kürzlich ein Interview mit Alexandra Laubrinus veröffentlicht, das eine digitale Weiterbildung der Berlin Food Week in Zusammenarbeit mit der XU Group zum Inhalt hatte. Auch Sie sind als Beteiligte genannt. Was ist Ihr Part dabei?

A.-M.W.: Es geht darum, dass Fachleute, wie beispielsweise ich, von ihrer Arbeit erzählen. Mein Thema ist dabei die Selbstständigkeit, Unternehmensgründung und Unternehmensführung.

Das Video dient natürlich der Motivation. Die Leute sollen sich selbst Ziele definieren und versuchen diese auch zu erreichen.

B.St.: Gerade die Spitzengastronomie ist eine Männerdomäne, insbesondere in der Küche. Warum gibt es vergleichsweise wenig Küchenchefinnen auf diesem hohen Niveau. Ist der Job zu hart?

A.-M.W.: Das ist genau die Frage, der ich mit meinem Podcast „Auf ein Glas Champagner mit Marie-Anne“ auf die Spur kommen möchte. Frauen in der Gastronomie ist ein sehr interessantes Thema. Der Frauenanteil von Küchenchefinnen in der Küche von Sternerestaurants lag vor kurzem noch bei unter 2%. Das ist ebenso erstaunlich wie traurig. 

Ein Grundproblem der Gastronomie ist der Nachwuchs. Das ist schon seit vielen Jahren so. Wahr ist aber auch, dass sich eine Gastronomin, Küchenchefin oder Sommelière oftmals zwischen Karriere und Familie entscheiden muss. Wenn dann in der Partnerschaft kein Ausgleich stattfindet, wird es für die Frauen schwierig.

In meinem Podcast spreche ich oft über die Themen Nachtarbeit, Schichtdienst, all die Dinge die mit einer Familie nur schwer vereinbar sind.

Der Job eines Restaurantleiters oder Sommeliers ist anspruchsvoll. Nicht nur die Arbeit mit dem Gast, die Einstellung auf die verschiedenen Charaktere, sondern auch die Tatsache, dass man stundenlang auf den Beinen ist, ist nicht immer einfach. Das sind alles körperliche Belastungen. Hinzu kommt ein hoher Stresslevel, sowohl in der Küche wie im Service. Die Branche ist schon sehr speziell. 

B.St.: Sie haben Ihren Mädchennamen wieder angenommen wie wir in der FAZ kürzlich lesen konnten. Dort stand, dass Gäste und Lieferanten erstaunt waren, Sie noch im Restaurant anzutreffen. Ich hoffe, Sie haben reichlich Hausverbote erteilt. 

A.-M.W.: (Lacht). Ach wissen Sie, es ist manchmal Unwissenheit oder Unbedarftheit, dass die Menschen schneller reden als sie denken.

Daher habe ich auch keine Hausverbote erteilt. Natürlich musste ich die Situation klarstellen. Doch das liegt nun alles hinter mir.

Ich habe aufgrund dieses Artikels sehr viel positives Feedback von anderen Frauen bekommen, die in ähnlichen Situationen waren. Es scheint in der Öffentlichkeit noch immer typische Männer- und Frauenrollen zu geben.

Es geht aber darum, dass beide in der Öffentlichkeit sichtbar sind.

Daher habe ich mich sehr über den Zuspruch gefreut. Außerdem hoffe ich, einen Denkanstoß geliefert zu haben. 

Ich jedenfalls fühle mich jetzt, so wie es ist, wunderbar.

B.St.: Ein sehr schönes Schlusswort. Vielen Dank Frau Wild für das nette und informative Gespräch.

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Zusammenfassung

Kopf und Herz des Restaurant Tim Raue in Berlin ist Marie-Anne Wild. Sie ist Eigentümerin, Geschäftsführerin und Gastgeberin im 2010 eröffneten Restaurant. Mit ihr konnte ich das nachfolgende Interview führen

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