100 Jahre MICHELIN-Führer Deutschland

100 Jahre MICHELIN-Führer Deutschland:

1910–1915: Die Anfänge

Start im Jahr 1910 mit Tipps zum Umgang mit Reifen und
Automobil sowie Informationen für die Reiseplanung
2010 ist für Michelin in Deutschland ein Jubiläumsjahr: Vor
100 Jahren erschien die erste Ausgabe des MICHELIN-Führers
Deutschland, damals noch zusammen mit den Reisetipps für die
Schweiz. In der Folgezeit sollte der Band eine wechselvolle
Geschichte erleben, die sowohl den Wandel in Gastronomie, Ess- und
Reisegewohnheiten als auch die politische Entwicklung in
Deutschland und Europa widerspiegelt.

Service für Mobilität statt Gastronomieführer
Als 1910 der MICHELIN-Führer „Deutschland und Schweiz“
herauskam, war sein Konzept in Frankreich bereits seit zehn Jahren
etabliert und ergänzte den florierenden Handel mit Reifen.
Michelin begann mit dem Band, auch im damaligen Deutschen
Reich sein Image als Dienstleister für Mobilität aufzubauen. Das
Unternehmen war damals gerade vier Jahre in Deutschland
präsent: 1906 war die „Deutsche Michelin Pneumatik
Aktiengesellschaft“ in Frankfurt am Main gegründet worden. Damit
kam das Geschäft von Michelin auch rechts des Rheins ins Rollen.
Von seiner späteren Rolle als Hotel- und Gastronomieführer war
der MICHELIN-Führer des Jahres 1910 noch weit entfernt. André
und Edouard Michelin wollten mit dem „Guide Michelin“
ursprünglich die Verbreitung des Automobils fördern und damit
dem Reifenmarkt Impulse geben. Dabei stießen sie in eine
Marktlücke. Auf den deutschen Straßen verkehrten 1910 bereits
50.000 Kraftfahrzeuge. Doch die Service-Infrastruktur für
Automobilisten war noch äußerst dünn, Chauffeure waren echte
Abenteurer und Improvisationskünstler. Kraftstoff war beispielsweise
oft nur in kleinen Portionen bei Apotheken oder
Lebensmittelhändlern erhältlich. Die Straßen waren vielfach weder
beschildert noch asphaltiert und die Fahrzeuge sehr anfällig. Die
Panne gehörte zum Autofahreralltag. Ein praktischer Reisehelfer
wie der MICHELIN-Führer kam hier wie gerufen.

Anleitung zum Reifenwechsel und Werkstattadressen
Entsprechend deutlich unterschied sich der von der Deutschen
Michelin Pneumatik AG verlegte MICHELIN-Führer von den
heutigen Ausgaben. Das „den Herren Automobilisten“ gewidmete
Buch enthielt unter anderem auf 37 Seiten detaillierte und
illustrierte Ratschläge zu Reifenwechsel und -reparaturen sowie zu
den hierfür benötigten Michelin Werkzeugen. Hinzu kamen bei
jedem aufgeführten Ort die Namen von Werkstätten, Batterieladestationen,
Benzin- und Öldepots.

Da in der Frühzeit des Automobils die Fahrzeugbesitzer oder ihre
Chauffeure in der Werkstatt häufig selbst Hand ans Fahrzeug legen
mussten, gab der Band auch an, ob in dem betreffenden Betrieb
eine Reparaturgrube vorhanden war. Zudem wies er darauf hin, wo
leere Michelin Pressluftflaschen gegen volle umgetauscht werden
konnten – vor 100 Jahren ein unverzichtbares und praktisches
Hilfsmittel, das den Gebrauch kraftraubender Handpumpen
überflüssig machte.

Eingängige Symbole von Anfang an
Bereits 1910 bediente sich der MICHELIN-Führer zur Information
der Leser eingängiger Symbole. Die Piktogramme sind seitdem ein
Kennzeichen des Guides geworden und spiegeln den Wandel in
Reiseverhalten, Technik und Lebensstandard wider. Während die
Symbole der ersten Ausgabe des MICHELIN-Führers Deutschland
Aufschluss über – heute selbstverständliche – Komfortmerkmale
wie Bad, Zentralheizung und elektrisches Licht gaben, verwiesen sie
später auf Annehmlichkeiten wie Telefonanschluss oder Fernseher
in den Zimmern.

Heute verraten die Michelin Piktogramme, ob ein Haus
Kreditkarten annimmt, einen schönen Park, Whirlpool, Tennisplatz
oder einen Wellness-Bereich bietet und ob den Gästen ein W-LANAnschluss
für den Internetzugang zur Verfügung steht.

Kompliziert, aber praktisch: Tipps für telegrafische Reservierung
Ein Zeitdokument, das heute schmunzeln lässt, ist auch die
Anleitung zur telegrafischen Zimmerbestellung mitsamt
kompliziertem internationalem Telegrafenschlüssel. Der Begriff
„ETAGENOFEN“ bezog sich danach nicht etwa auf eine
Heizgelegenheit auf dem Stockwerk, sondern den Wunsch nach
Zimmern in der vorletzten Etage. Auch das Wort „ARAB“ war keine
Abkürzung, sondern stand für ein Zimmer mit zwei Betten.

Die Auswahl der Hotels selbst nahm sich 1910 im Vergleich zu
heute noch bescheiden aus. Bis heute geblieben ist ihre
Klassifizierung mit Häusersymbolen, verändert hat sich lediglich
die Definition. Im MICHELIN-Führer Deutschland 1910 bedeuteten

Fünf Häuser: „Hotel der 1. Klasse = Palast-Hotel, prunkhaft
mit fürstlichem Komfort“ (heute: „Großer Luxus und Tradition“)

Vier Häuser: „Hotel der 2. Klasse = großes, elegantes, mit
allem modernen Komfort ausgestattetes Hotel“ (heute: „Großer
Komfort“)

Drei Häuser: „Hotel der 3. Klasse = gutes, komfortables,
modern eingerichtetes Hotel“ (heute: „Sehr komfortabel“)

Zwei Häuser: „Hotel der 4. Klasse = gutes Hotel mit
mittelmäßigem Komfort“ (heute: „Mit gutem Komfort“)

Ein Haus: „Hotel der 5. Klasse = einfaches, aber gut gehaltenes
Hotel“ (heute: „Mit Standard-Komfort“)

Ein weiteres, heute nicht mehr verwendetes Symbol mit Weinglas
und Gedeck stand für „Hotel der 6. Klasse = kleines Hotel oder
Gasthof, wo man ohne große Ansprüche gut speisen kann“.

Angaben zu Stellplätzen und der Verpflegung des Chauffeurs
Neben den Preisen für Zimmer und Mahlzeiten lieferte der
MICHELIN-Führer auch Angaben zu den Kosten für die
Verpflegung des Chauffeurs. Außerdem informierte er darüber, wie
viele Stellplätze vorhanden waren und ob das Hotel über eine
Dunkelkammer zum Entwickeln von Fotografien verfügte.
Hintergrund: Vor 100 Jahren fotografierte ein Großteil der
Reisenden mit Plattenkameras. Das belichtete Filmmaterial musste
schnellstmöglich entwickelt werden.

Seine Informationen bezog Michelin per Fragebogen, der rund
40 Posten umfasste. Anonym arbeitende Michelin Inspektoren wie
heute waren noch nicht im Lande unterwegs. Restaurantempfehlungen
fanden sich im MICHELIN-Führer Deutschland 1910
noch nicht. Diese waren erstmals in der Frankreich-Ausgabe 1923
zu finden.

Manche Hotels im MICHELIN-Führer Deutschland 1910 waren mit
einem Stern gekennzeichnet. Diese Häuser verpflichteten sich,
keinen höheren Preis als den im Buch genannten Tarif zu
verlangen. Michelin sorgte auf diese Weise bereits vor 100 Jahren
für Sicherheit bei der Reiseplanung und verlässliche Kosten.
Im MICHELIN-Führer Deutschland 2010 werden die Traditionshäuser,
die schon in der Ausgabe von 1910 gelistet waren, mit
einem goldenen Lorbeerkranz gekennzeichnet sein.

Schon 1910 ein Markenzeichen: detaillierte Stadtpläne
Die Orientierung auf der Reise erleichterten Stadtpläne. Sie
bestachen bereits durch die typische detaillierte Darstellung, die
Michelin Karten bis heute auszeichnet. Neben Karten der großen
Städte in zweifarbiger Ausführung am Anfang des Buches bot der
MICHELIN-Führer im Text Pläne für weitere wichtige Städte.
Entfernungskarten im großen Maßstab am Ende des Bandes
erlaubten es Fahrer und Passagieren darüber hinaus, sich auf einen
Blick zu informieren, wie viele Kilometer sie noch zurückzulegen
hatten. Besonders praktisch und ein enormer Fortschritt angesichts
der Tatsache, dass 1910 der Großteil der Automobile kein festes
Dach hatte: Die ins Buch eingebundenen Karten flatterten nicht
unkontrollierbar im Fahrtwind herum.

Zur wertvollen Hilfe für die Reiseplanung wurde der MICHELINFührer
Deutschland auch durch Kommentare zur Straßenqualität
und detaillierte Entfernungsangaben für die einzelnen Ausfallstraßen
bei jedem aufgeführten Ort.

Gratis bei Michelin Niederlassungen und Hotels erhältlich
Der MICHELIN-Führer Deutschland war anfangs bei den
„Stockisten“ genannten Michelin Verkaufsniederlassungen sowie
bei den in der Ausgabe aufgeführten Hotels, Automobilfabriken und
Automobilhändlern kostenlos erhältlich. Anders als heute
finanzierte sich das aufwendig recherchierte Buch wie alle
Ausgaben der Reihe durch Werbung. Meist handelte es sich dabei
um Anzeigen für Produkte und Bücher rund ums Automobil. Erst
als der MICHELIN-Führer in Frankreich 1920 kostenpflichtig
wurde, schränkte das Unternehmen die Werbung zunehmend ein.
Von den modernen Titeln unterschieden sich die ersten
MICHELIN-Führer Deutschland auch durch den blauen Einband.

Das typische Rot war damals exklusiv dem MICHELIN-Führer
Frankreich vorbehalten. Ansonsten hatte jeder Band seine eigene
Farbe: Die Ausgabe „Großbritannien“ war violett, „Spanien und
Portugal“ gelb sowie „Alpen und Rhein“ mit den Niederlanden,
Belgien, den oberitalienischen Seen und ab 1911 auch der Schweiz
grün. Der Band „Länder der Sonne“, der die Côte d’Azur, Korsika,
Italien, Nordafrika und Ägypten umfasste, erschien in Orange.
Der blaue Band kam bei den deutschen Automobilisten sofort gut
an. Bereits 1911 erreichten sämtliche gedruckten Exemplare
aufeinandergestapelt viermal die Höhe der Kölner Domtürme. Im
selben Jahr wurde das Buch exklusiv zum MICHELIN-Führer
„Deutschland“ ohne die Schweiz.

1914: jähes Ende mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges
Im Jahr 1913 umfasste der MICHELIN-Führer acht Titel, die ein
Gebiet von Schottland bis Nordafrika und von Irland bis Königsberg
abdeckten. Dem hoffnungsvollen Start folgte das jähe Ende: 1914
brach der Erste Weltkrieg aus. Deutschland und Frankreich wurden
Kriegsgegner. Die noch junge Michelin Pneumatik AG geriet unter
Zwangsverwaltung und musste die Arbeit niederlegen. Statt eines
Reisehandbuchs für Automobilisten druckte Michelin 1915 in
Frankreich eine Spezialausgabe „Allemagne occidentale“ für das
Militär mit Angaben zu öffentlichen Gebäuden, Kasernen, Fabriken
und Verkehrswegen.

Erst 1925 nahm Michelin seine Aktivitäten in Deutschland wieder
auf. Bis wieder ein MICHELIN-Führer Deutschland erschien, sollte
es allerdings bis 1964 dauern.

MICHELIN-Führer Deutschland 2010
ISBN 978-2-06-714677-8, 29,95 EUR, (Österreich: 30,80 EUR), 41 sfr.

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